Das Erlebnis Klettern als bewegungstherapeutischer Ansatz

im Rahmen der Integrativen Therapie

 

 Artikel von Anne-Claire Kowald, Wien, erschienen in: Integrative Bewegungstherapie – Zeitschrift für Integrative Leib- und Bewegungstherapie für Deutschland, Niederlande, Österreich und Schweiz. Nr. 1/2011, 19. Jahrgang. ISSN 1437-2304

Einleitung

Klettern – Indoor in Hallen und Outdoor in der Natur – wurde in den letzten Jahren zunehmend zu einem Trendsport. Viktor Frankl schon beschrieb seine Bergerlebnisse und die dabei erlebten Sinn- und Lebenserfahrungen. Er sah im Klettern eine heilsame Möglichkeit den Geist eines Menschen gegenüber den Ängsten und Schwächen der Seele zu stärken.

Auf den ersten Blick mag sich der Leser/die Leserin fragen, was die Integrative Leib- und Bewegungstherapie (IBT) und die Sportart Klettern gemeinsam haben. Im Zuge meiner Masterarbeit an der Donau-Universität-Krems in der Fachrichtung Integrative Psychotherapie habe ich untersucht, welche Phänomene KlientInnen beim Klettern erleben und anhand der Auswertung ein Konzept entwickelt, wie Klettern sich als bewegungstherapeutischer Ansatz innerhalb der Integrativen Therapie einsetzen lässt.

Dieser Artikel wird nach einer kurzen Einführung ins Klettern und die Klettertherapie bzw. das therapeutische Klettern, die Ergebnisse der empirischen Arbeit darstellen und das Konzept des ‚Integrativen Therapeutischen Kletterns’ vorstellen.

Klettern

Im Allgemeinen wird am natürlichen Fels oder auf künstlichen Anlagen, also in Kletterhallen, geklettert. Klettern gehört mit seinen Bewegungselementen: Halten, Stützen, Greifen, Ziehen und Treten zu den Grundformen menschlicher Bewegung und ist schon bei Kleinkindern zu beobachten. In der Regel besteht das Ziel des Kletterns im Absolvieren einer zuvor festgelegten Kletterroute. Solche Routen sind durch unterschiedliche Schwierigkeitsgrade gekennzeichnet (Witzel 1998, 132ff). Die Autorin stellt das Bouldern und das Top-Rope-Klettern vor, zwei  Kletterarten die beim therapeutischen Klettern am häufigsten eingesetzt werden.

Bouldern ist das Klettern an Felsblöcken oder an einer Boulderwand (niedere künstliche Kletterwand) in Absprunghöhe und ohne Sicherung. Durch die relativ niedrige Kletterhöhe (meist bis 2-3m) ist ein gefahrenfreies Abspringen auf Sicherungsmatten jederzeit möglich (Scholz 1999, 96). Eine Boulderwand bietet sehr viele Vorteile, da hier ein erster Zugang zum Klettern in Bodennähe und daher mit dem damit verbundenem Sicherheitsgefühl, ermöglicht wird. Vor allem für ängstlichere Menschen kann hier über eine große Anzahl von Spiel- und Übungsformen, sowie das Erlernen von Technik, eine erste Gewöhnung an die Kletterbewegungen Greifen, Halten, Stützen und Steigen, erreicht werden (Hofmann 2007, 10ff).

Da das Top-Rope-Klettern die sicherste Art des Sportkletterns darstellt, ist es die im therapeutischen Klettern praktizierte Variante des Sportkletterns. Beim Top-Rope-Klettern läuft das Sicherungsseil von der sichernden Person nach oben zum Top (Höhe ca. 5-16m), dem höchsten Punkt der Route, durch eine Umlenkung und wieder nach unten zu der kletternden Person. Das Sicherungsseil ist also am Top eingehängt und die beiden Seilenden hängen von dort bis zum Boden hinunter. 

Das Therapeutische Klettern

Anfang der 90iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts fanden die ersten Schritte statt, das Klettern in Therapieverfahren zu integrieren. Der Einzug in die Welt der „Therapien“ ist einzelnen Menschen zu verdanken, die durch Eigenerfahrungen mit dem Klettern die therapeutische Wirksamkeit erfahren und durch ihr persönliches Engagement dies der Social Community zugänglich gemacht haben.

Therapeutisches Klettern wurde anfangs vor allem in der Orthopädie und der Neurologie zur Rehabilitation eingesetzt. Inzwischen wird Klettern vermehrt in der ergo- und physiotherapeutischen Praxis, sowie im Rahmen von Psychotherapien genutzt. Es geht dabei weniger um den sportlichen Effekt des Trainings, sondern um verschiedene therapeutische und rehabilitative Ansätze: Im Bereich der Motorik gehören die Behandlung von Koordinationsstörungen, die Förderung der Fein- und Grobmotorik, Kraft, Ausdauer, sowie Reaktion und Belastbarkeit dazu. In der Wahrnehmung werden die Tiefen- und Oberflächensensibilität, das Gleichgewicht, die räumliche Wahrnehmung sowie das Körperschema verbessert. Der Sozio-Emotionale Bereich wird durch die Förderung von Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, Vertrauen, Verantwortungsbewusstsein und Selbsteinschätzung gefördert. Durch das Definieren eines Zieles, Handlungsplanung, Gedächtnis, Konzentration und das Erstellen von Problemlösungsstrategien wird die Kognition angesprochen (Lazik, Bittmann, s.a., 2ff).

Obwohl die Wirkung des Kletterns wissenschaftlich noch kaum erforscht ist, gibt es mittlerweile etliche Kliniken, Praxen, Schulen, Vereine und Initiativen, in denen sich Klettern als Therapie – erfolgreich – etabliert hat. 

Um dem Leser/ der Leserin vorwegnehmend einen Einblick ins therapeutische Klettern zu geben, sowie die dabei erlebten Leiberfahrungen zu erläutern, möchte ich nun die von mir entwickelte Definition anführen.

Definition „therapeutisches Klettern“ bzw. „Klettertherapie“:

Therapeutisches Klettern ist eine Therapieform bei der das Klettern im Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses steht. Es ist im Rahmen einer Psychotherapie kein Sport- oder Alpinklettern im klassischen Sinn, sondern ein begleitetes Bewegen an Kletterwänden (Indoor) am Top-Rope-Seil oder an der Boulderwand. Im Vordergrund stehen die psychischen Komponenten, das Erleben und die Wirkung des Kletterns auf den gesamten Menschen.

Beim therapeutischen Klettern werden intensive Gefühle aktiviert und damit die Möglichkeit eröffnet, an bedeutsamen persönlichen Themen zu arbeiten. Es zeigen sich sowohl die Komponenten der Konfrontation mit den eigenen Ängsten, im Speziellen mit Höhenangst, dem individuellen Grenzerleben und Aspekte des Selbstwertes und Selbstvertrauens. Die Erfahrung von Relationalität im Sinne eines gegenseitigen aufeinander Angewiesenseins und gegenseitiger Abhängigkeit, münden in eine verlässliche Beziehung (Kletterer/Kletterin versus SicherungspartnerIn). Der Bereich des individuellen Umgangs mit Lernen und Leistung und das Bearbeiten von Widerständen und Frustrationserfahrungen sind ebenso häufig Thema. Gleichzeitig ermöglicht das therapeutische Klettern das Erleben von Freude und Stolz, von „Flow“. Das unterstützt das Selbstwertgefühl und fördert Selbstbewusstsein, Verantwortungsbewusstsein, Selbsteinschätzung und Vertrauen. Die Erfahrung, zumindest für einen gewissen Zeitraum, für einen anderen Menschen von existentieller Bedeutung zu sein, ist in diesem Zusammenhang wesentlich. Durch das Definieren eines Zieles werden Handlungsplanung, Gedächtnis, Konzentration und das Erstellen von Problemlösungsstrategien sowie die Kognitionen angesprochen. Therapeutisches Klettern im Rahmen einer Psychotherapie ermöglicht direkt am individuellen ganzheitlichen Erleben und Verhalten von KlientInnen zu arbeiten.

Ergebnisse der empirischen Untersuchung

Ich bin in meinen empirischen Untersuchungen den Fragen:

 – Was erlebt ein Mensch beim Klettern?

 – Welche Phänomene lassen sich beim therapeutischen Klettern beobachten?

nachgegangen. Zur Datengewinnung führte sie ein Experteninterview mit einem Psychologen durch, der zusätzlich als Sportwissenschafter, Psychotherapeut und langjähriger Kletterinstruktor, in besonderer Weise als Experte ausgewiesen ist. Dazu kamen teilnehmende Beobachtungen von therapeutischen Klettereinheiten mit einer Kindergruppe (3 Kinder, 2 Einheiten) und einer erwachsenen Klientin (3 Einheiten).

Aus dem Experteninterview sollen zwei beschriebene Betrachtungsebenen des Kletterns kurz erläutert werden. 

Der Experte erwähnt zuerst eine „phänomenologische Betrachtung“ des Kletterns. Er spricht vom Erlebnis der Faszination, die das Klettern bei vielen Menschen, vor allem am Anfang, auslöse. Es konsumiere ihre ganze Aufmerksamkeit und die Bewegungen seien dann oft das einzige, woran sich die Menschen danach erinnern könnten. Vom Einstig der Route bis an ihr Ziel, seien nicht alltägliche Gedanken, sondern einzig und allein die Bewegungen, die das Klettern erfordert, im Kopf der Menschen. Es stelle sich so etwas wie das so genannte „Flow-Erlebnis“ ein. Das „An-meine-Grenzen-kommen“ und besonders das Thema „Angst“ seien beim Klettern zentral. Das beschreibt die Intensität, die diese Sportart im Vergleich zu anderen, mit sich bringt. 

In der zweiten Betrachtungsebene, der „evolutionstheoretischen Betrachtungsweise“ erwähnt der Experte die Besonderheit der Bewegungsform „Klettern“ für den Menschen. Es sei evolutionstheoretisch gesehen lange Zeit die Hauptbewegungsform der Individuen, von denen wir abstammen, gewesen, die sich im Laufe der Jahrmillionen zum Homo Erectus und schließlich zum Menschen der wir heute sind, entwickelt haben. Aus diesem Grund sind die physiologischen, anatomischen und biomechanischen Vorraussetzungen des Menschen für das Klettern wie geschaffen, so der Experte. Der Mensch findet durch das Klettern zu seiner ursprünglichen Bewegungsform zurück und erlebt dabei so etwas wie eine „Wiedersehensfreude“. Ferner haben die Menschen Freude und Spaß am Klettern, weil es eine angenehme körperliche Bewegung ist. Gleichzeitig gibt es auch den Aspekt des immer wiederkehrenden Kampfes gegen „gefährliche“ oder „unsichere“ Bewegungen, die Angst auslösen können. Das Bewältigen einer Aufgabe, das Erreichen eines Zieles sind als Themen ebenso präsent wie das Erlebnis der Bezogenheit zum/zur SicherungspartnerIn. 

Neben diesen phänomenologischen und evolutionstheoretischen Betrachtungsebenen kristallisierten sich im Expertinterview und in den teilnehmenden Beobachtungen folgende beim Klettern erlebte und erfahrene Aspekte heraus:

Aspekte des Kletterns

1. Vertrauen

Es zeigte sich in meinen Untersuchungen, dass es beim Klettern um Vertrauen in sich selbst als Leib-Subjekt (Körper-Seele-Geist), um Vertrauen in das Material (Seil, Gurt) sowie um das Vertrauen in ein Gegenüber (SicherungspartnerIn) geht. Vertrauen vom Gegenüber zu bekommen, bewirke einen Vertrauensgewinn bei sich selbst. Die empirischen Untersuchungen ergaben, dass sich der Aspekt des Vertrauens unter bestimmten Vorraussetzungen verbessert und mehr Vertrauen in sich selbst, in das Material und in die sichernde Person entstehen kann. Die Erfahrung, eine subjektiv anspruchsvolle Route zu bewältigen, wirkt sich auf das Selbstvertrauen aus und hat als Folge eine Veränderung des Selbstbildes. Klettern fördert und stärkt somit das Vertrauen in sich und in Andere.

2. Selbstwert und Selbstwirksamkeit

Selbstwert erlebt ein Mensch beim Klettern über die Wahrnehmung von sich selbst, seinen Grenzen, seinen Möglichkeiten, Ressourcen und über seine persönlichen Erfolge. Eine Einzelleistung zu vollbringen, in dem man etwas für sich Schweres schafft, steigert den Selbstwert. Gleichzeitig sollen im therapeutischen Prozess Leistung und Selbstwert nicht voneinander abhängig gemacht werden. Wesentliche Aspekte der Selbstwirksamkeitserfahrung sind für den Klienten/ die Klientin das Erleben der eigenen Kraft und Lebendigkeit, sowie das eigene Kompetenzerleben.

3. Fokussierung von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung

Des Weiteren wurde in beiden Datenschnitten offensichtlich, dass Klettern eine absolute Fokussierung von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung vom Einstieg in eine Route bis an ihr Ende erfordert. Beim Klettern wird der individuelle Überlebenstrieb dermaßen angeregt, dass die ganze Aufmerksamkeit und Wahrnehmung des Menschen auf das momentane Tun, das Klettern, gerichtet wird.

4. Freude / Stolz

Da Klettern als ursprüngliche Bewegungsform des Menschen gesehen werden kann, ist diese angenehm und ermöglicht das Erleben von Freude. Mehrere Faktoren des Gesamterlebnisses Klettern, wie z.B. das Überwinden der eigenen Ängste und Grenzen, die wohltuenden Bewegungsmuster und die Gefühle, etwas geschafft und sein Ziel erreicht zu haben, das Funktionieren des Körpers, das Spüren der eigenen Kräfte, lösen Freude und Stolz aus.

5. Individuelle Grenzen und Angst

Beim Klettern zeigen sich die Komponenten des Grenzerlebens relativ schnell. Die kletternde Person ist mit ihren Möglichkeiten und Grenzen konfrontiert. Entweder sie schafft eine Route mit ihrer körperlichen Kraft und Technik oder nicht. In der therapeutischen Arbeit kann der Umgang mit diesen Grenzen sowie eine Erweiterung dieser Grenzen, erprobt werden.

Verbunden mit dem Grenzerleben ist das unmittelbare Erleben von Angst, die Bereitschaft zum Eingehen von kalkulierbaren Risiken und in Folge davon, wie bereits erwähnt, das Akzeptieren und die Überwindung von Grenzen. Das Experteninterview deutet darauf hin, dass Angst in einem breiten Spektrum als Thema beim Klettern sehr präsent ist. Klienten haben Angst vor der Höhe, Angst zu Stürzen oder vor Verletzungen. Das Klettern ermöglicht die Erfahrung, die eigene Angst bewältigen zu können, den Umgang damit zu erproben und die eigenen Grenzen zu erweitern.

6. Körpererfahrung – Leiberfahrung

Auf der Ebene des Körpers, werden folgende Qualitäten spürbar: Muskelkraft, Flexibilität / Dehnbarkeit, Ausdauer, Maximalkraft bis hin zu Außer-Atem-sein, Sich-kraftvoll und –kraftlos-fühlen  sowie Veränderung der Körpertemperatur bzw. Schwitzen.

Klettern als eine ursprüngliche Bewegungsform des Menschen ermöglicht positives Körpererleben. Das In-Bewegung-bringen des eigenen Körpers, der Einsatz von Kraft, die dadurch ausgelösten Adrenalin- und Endorphinausschüttungen sowie der emotional-euphorische Zustand beim Klettern sind Leiberfahrungen.

Das Klettern ermöglicht sich selber als „funktionierendes motorisches Lebewesen“ zu erleben und es hat gleichzeitig eine realitätsstützende Wirkung, da sich die KlientInnen wieder „als“ funktionierenden Körper erleben können, – so der Experte. Sie empfinden ihren Körper plötzlich nicht mehr nur als ein „Anhängsel ihrer Psyche“, als Ort von Schmerz und Ablehnung, sondern als Teil von sich selbst der ihnen auch Freude bereite. Die Erfahrung: „Ich bin ein Leib!“ sei eine ganz wesentliche, der das Selbstwertgefühl fördere, – sagt der Interviewpartner. für die KlientInnen. Den eigenen Körper als funktionierend und als Teil von sich zu erleben, ermöglicht eine Steigerung des „Körper-Selbstwertes“, erwähnt der Interviewpartner. Die Steigerung des Körper-Selbstwertes sei eines der Ziele, welches durch das therapeutische Klettern greif- und erlebbarer sei als im klassischen psychotherapeutischen Setting.

7. Leistung / Zielsetzung

Der individuelle Umgang mit persönlichen Leistungsansprüchen, mit Zielsetzungen, Stress, Druck, Versagensängsten, Aspekten von Scheitern und Verzweiflung wird beim Klettern deutlich und steht im Vordergrund des Erlebens. Erreicht ein Mensch sein gesetztes Ziel am Top einer Route, dann aus eigener Kraft. Hilfestellungen durch den/die TherapeutIn, sowie Techniken und übendes Verhalten, können das Handlungsrepertoire, und somit Leistungen und Zielsetzungen, erweitern

8. Beziehung

Die Erfahrung von Relationalität im Sinne eines Gegenseitigen-aufeinander-Angewiesenseins – eine Person klettert, die andere sichert – und gegenseitiger Abhängigkeit in diese verlässliche Beziehung, ist beim Klettern sehr zentral. In der Untersuchung wurde deutlich, dass durch das Gehalten-Werden durch das Seil, durch das „Sich-in-die-Hände-von-jemandem-begeben“ wenn man sich sichern lässt und das Vertrauen, von diesem Mitmenschen  Unterstützung und Hilfestellung in einer schwierigen Situation zu erhalten, heilsame Erfahrungen geschehen können. Das Erleben von Begleitung und die gegenwärtigen Gefühle und Reaktionen, ermöglichen eine positive nachnährende Beziehungserfahrung. Es findet Ko-respondenz auf der Körper-, Gefühls- und Vernunftebene statt. Miteinander Klettern impliziert Bezogenheit, In-Beziehung-Setzen, Kommotilität und es ermöglicht Kokreation.

Ein wichtiger Aspekt ist auch die verbale Kommunikation. Das betrifft einerseits Klarheit und Deutlichkeit in der Anweisung was an Handlungen vorgenommen werden soll und andererseits läuft parallel dazu der Austausch über die psychische Befindlichkeit der kletternden Person (KlientIn).

9. Lernen

Das Thema Lernen zeigt sich beim Klettern durch Veränderungsprozesse des Handelns, Denkens und Fühlens, sowie im Sammeln neuer Erlebnisse, Erfolgserfahrungen und Kompetenzen. Dieses verbindet sich mit Erfahrungen, die schon früher im Laufe des Lebens gemacht wurden und die im Körpergedächtnis gespeichert sind und nun in den gegenwärtigen Kletterprozess mit hineinfließen. Alles zusammen führt zu einer Veränderung des Selbstbildes. Klettern lehrt, dass z.B. durch Einüben der schweren Stelle in einer Route, die eigenen Fähigkeiten verbessert werden können und der/die KlientIn in Folge dessen etwas schafft was davor als schwer oder unmöglich erschien. Er/Sie lernt durch Anstrengungsbereitschaft und Übung an ein Ziel zu gelangen.

 

Klettern … ein Erlebnis und Erleben?

In meinen Untersuchungen erforschte ich das Erlebnis Klettern bzw. das Erleben des Kletterns über den phänomenologischen Zugang.

Erlebnis ist ein aus subjektiver Sicht besonderes Ereignis und wird als etwas Besonderes bzw. Nicht-Alltägliches wahrgenommen. Es ist zeitlich begrenzt und beinhaltet eine hohe emotionale Wirkung sowie ein hohes Wirkpotential. Ein Erlebnis ist völlig individuell und trifft den Menschen im Kern seiner Persönlichkeit. Die strukturellen Grenzen von Zeit sind aufgehoben und es weist Resultatscharakter auf. Im Erlebnis ist Ganzheit.

Erleben umfasst jegliche bewusste Wahrnehmung alltäglicher Geschehnisse, sowie intensive außergewöhnliche Eindrücke des Lebens an sich. Es beinhaltet den bewussten sinnlichen, emotionalen und kognitiven Wahrnehmungsprozess eines Subjektes und beschreibt wie der Mensch sein Leben „innerlich“ wahrnimmt und erlebt. 

Klettern ist eine bestimmte, besondere, aufregende und nicht alltägliche Erfahrung in einem speziellen Rahmen (Kletterhalle oder Fels). Das was beim Klettern erlebt wird, ist absolut subjektiv, unmittelbar und individuell. Es ist ein „Leib-Erlebnis“, es ist Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt, es ist Ko-existenz, Ko-respondenz, es ist Eigenwahrnehmung und Selbsterfahrung. Klettern ist ein Medium welches mit der Aktivierung intensiver Gefühle einhergeht und damit auch die Möglichkeit eröffnet, an bedeutsamen persönlichen Themen und Prozessen arbeiten zu können.

Integratives Therapeutisches Klettern – ein neues Konzept

Nun stellt sich mir die Frage, in welchen Bereichen das therapeutische Klettern als bewegungstherapeutische Maßnahme eine Methode der IBT sein könnte? Welche der erzielten Resultate aus den empirischen Untersuchungen lassen sich durch die Theorie der Integrativen Therapie (IT) stützen?

Das Leib-Konzept der Integrativen Therapie versucht den Menschen in seiner Körperlichkeit, seiner Emotionalität, seiner geistigen Struktur, sowie seinem sozialen und ökologischen Kontext als „Leibsubjekt in der Lebenswelt“ (Petzold 1988, 342) zu erfassen. Aus dieser ganzheitlichen anthropologischen Sichtweise kann man Klettern als eine Methode der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie ansehen.

Der Mensch erfährt Sinn über seine Sinne, über sein Wahrnehmen, Handeln, Fühlen und Denken. Beim Klettern werden sowohl die Sinne, als auch die intrapsychischen Vorgänge und die Wahrnehmung angeregt und gefordert. Der Mensch erlebt dabei einerseits seinen Körper, die dadurch ausgelösten Emotionen und seine Kognitionen und macht anderseits die Erfahrung seiner Ganzheit. Beim Klettern ist ein Mensch in seiner leibhaftigen Ganzheit, als „thymos“, mit seinen Regungen und Empfindungen, den dazugehörigen Emotionen, Stimmungen, Gedanken, Bewertungen, Volitionen konfrontiert und gleichzeitig werden Erinnerungen aus der Lebensgeschichte geweckt. Alte Szenen können auftauchen.

Emotionale und kognitive Neu- oder Umbewertungen im Sinne einer emotionalen Differenzierungsarbeit und die Gelegenheit sich „neu“ zu erleben und sich etwas zu trauen was sonst nur „wagemutigen Helden“ zugeschrieben wird, kann eine Veränderung der Verhaltensstile und Persönlichkeitsstrukturen hervorrufen, wie der Experte erwähnt. 

„Eigenleibliches Spüren“ beim Klettern ist das Spüren des eigenen Körpers in der gegebenen Situation an der Wand mit den dazugehörigen Gefühlen und körperlichen Regungen. Der „perzeptive Leib“ wird beim Klettern intensiv angeregt, sei es durch die kräftige Muskelspannung beim Greifen, die  speziellen Lagen des Körpers, Informationen aus der Umwelt über die  Kontakt- und Distanzrezeptoren oder durch oberflächliches oder vertieftes Atmen auf Grund von heftiger Anstrengung oder Angstgefühlen.

Das Klettern kann den „expressiven Leib“ zu unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten anregen. Es kommt zu spontanen Reaktionen in Bezug auf das beim Klettern Erlebte, aber auch durch das Ausprobieren neuer oder ungewohnter Bewegungs- und Verhaltensmuster, bezüglich unterschiedlichen Krafteinsatzes und den Gebrauch der Stimme. Auch stimmlich kommt es oft zu völlig neuem und unerwartetem Ausdruck. Die KlientInnen erleben sich in ihrem Leib-Selbst bewusst und lebendig und finden spontanen Ausdruck von Lebendigkeit und Lebensfreude. 

Der „memorative Leib“ speichert die verschiedenen Wahrnehmungen des perzeptiven sowie die Handlungen, Reaktionen und Ausdrucksweisen des expressiven Leibes. Er vernetzt Erinnerungen an Empfindungen, Sinneseindrücke, Bewegungsabläufe, Beziehungen und Szenen miteinander. Die Arbeit an und mit Ängsten beim Klettern setzt genau hier an. Hier können die Archive des Leibes berührt und erschlossen werden.

Der „reflexive Leib“ erlaubt dem Menschen mit einem exzentrischen Blick Distanz zu seinen Lebenserfahrungen herzustellen. Das Klettern ermöglicht alternative Sicht- und Verhaltensweisen zu entwickeln, sowie neue Erlebnisse und Erfahrungen zu machen. Beispiele sind: Standortwechsel im Raum und damit Perspektivenwechsel, Einnehmen alternativer Haltungen oder Ausführen neuer Bewegungen, Adaptierung der Zielsetzung, Erarbeiten von Lösungsmöglichkeiten einer Route.

Weitere Konzept der IT, welche eine bedeutende Rolle für das therapeutische Klettern als bewegungstherapeutischer Ansatz spielen, sind die „erlebniszentriert-stimulierende Modalität“ und die „übungszentriert-funktionale Modalität“.

In der erlebniszentrierten Modalität werden spielerische und alternative Formen des Leiberlebens und Ausdrucks erfahren. Eine multisensorische und multiexpressive Arbeit, bei der das Sinnesorgan Leib mit all seinen Sinnen angesprochen wird, wird angeregt.

In der übungszentrierten Modalität steht das Üben im Vordergrund. Das Klettern ermöglicht direkt und situativ eine Bewegung mehrmals auszuführen, hineinzuspüren in den Leib und die Bewegungen zu modifizieren. Atmung, Haltungen, Bewegungen, Beweglichkeit Flexibilität, Anspannung-Entspannung können erprobt und verändert werden. In meiner Untersuchung zeigte sich beispielsweise, dass das übungszentrierte Vorgehen die Angst einer Klientin minimierte. Das Erlernen der Klettertechnik erweiterte ihre Problemlösungsmöglichkeiten und sie konnte durch das übende Verhalten neue Erfahrungen machen. 

Das Besondere des Kletterns im Rahmen einer Psychotherapie ist die Anwesenheit des/der TherapeutIn. Dies dient insbesondere dem therapeutischen Prozess, wenn es sich um Themen wie Leistung und Zielsetzung, Angst, Verzweiflung, Scheitern und individuelle Versagensängste handelt. Es kann direkt an diesem Verhaltensmuster, z.B. „Sich-zu-hohe Ziele-stecken“ gearbeitet werden und gemeinsam ein Boulder zusammengestellt werden, der bewältigbar ist. So kann durch Ausprobieren das Verhalten und somit auch die emotionale Reaktion modifiziert werden. Die Erkenntnis, durch Übung und mehrmaliges Wiederholen oder auch Verändern ein Problem beim Klettern lösen zu können, ist oft ein „Aha-Erlebnis“. 

Ein weiterer wichtiger Zugang ist nach integrativtherapeutischem Verständnis die Movement Produced Information. Dies wird beim Lächeln am Top offensichtlich, aber auch in der Freude über die eigene Kraft. Die Aufmerksamkeit wird auf das leibliche Selbsterleben gerichtet, auf Bewegung, Haltung, Gestik, Mimik. Diese Aktivitäten wiederum informieren das Gehirn. Es zeigte sich in den Daten, dass körperliche Aktionen emotionale Reaktionen auslösen. Klettern biete genuin etwas Antriebsteigerndes und die Möglichkeit unmittelbar Freude zu erleben, so auch die Erfahrung des Experten. 

In den Mentally Imagined Motor-Actions werden mentale Ansätze verwendet. Konkrete Vorstellungen und Bilder einzelner Bewegungsabläufe kommen zum Einsatz, oder der Fokus wird auf das Ziel gesetzt, um die Angst zu überwinden. Die Ergebnisse aus den Daten zeigen, wie die Vorstellung, das Ziel erreichen zu können und die entsprechende Willensentscheidung, Kraft geben, um z.B. Müdigkeit zu überwinden. Hier sei auch das IT Konzept der „prospektiven Leibebene“ genannt, in der über Vorstellungen oder Phantasien zukünftige Entwicklungen des Leibes erfasst werden können. 

Ein weiteres in diesem Zusammenhang wesentliches Konzept der IT sind die ‚Vier Wege der Heilung und Förderung’.

In den Ergebnissen meiner Daten wurde deutlich, in welcher Weise neue und unterstützende Szenen und Atmosphären korrigierende, emotionale Erfahrungen ermöglichen, frühere Lebenserfahrungen emotional neu bewertet und der Selbstwert gefördert werden kann. Die Begleitung und Unterstützung durch den/die TherapeutIn in einer schwierigen Situation in der Wand und die Erfahrung, in einer solchen Lage nicht alleine gelassen zu werden, ermöglichen den KlientInnen neue, „nachnährende“ Erfahrungen von Respekt, Akzeptanz, Achtsamkeit, Grundvertrauen und Fürsorge. Zu zeigen, wie es einem geht und sich mit Gefühlen, Bedürfnissen und Grenzen dem/der TherapeutIn zuzumuten und die Erfahrung: „Ich bin in Ordung so wie ich bin“, sind korrigierende, emotionale Erfahrungen und können wesentlich zur Genesung, Heilung und Neuorientierung beitragen. 

Meine Untersuchungen weisen darauf hin, dass es beim Klettern auch um die Förderung der Erlebens- und Ausdrucksmöglichkeiten, um kreative Erlebnisaktivierung, um ressourcenorientierte Persönlichkeitsentfaltung, sowie um alternative Handlungsmöglichkeiten geht. Es werden neue Erfahrungen, z.B. im Umgang mit der eigenen Angst gemacht und neues Verhalten kann in therapeutischer Begleitung ausprobiert werden. KlientInnen können Neugierde entwickeln, „sich selbst zum Projekt und zum Experiment machen“. Die aktuelle Situation in der Wand wird als Übungsfeld einbezogen, um so neue Lebensstile zu fördern. Auf diesem Weg werden vor allem Ressourcen und protektive Faktoren aktiviert. Lustvolle, angenehme Bewegungen steigern den Muskeltonus, fördern die Aufrichtung und bewirken eine Veränderung in der Stimmungs- und Gefühlslage. Z.B. kann erarbeitet werden, dass man beim Klettern (und im Leben allgemein) „Pausen“ machen darf“!

 

Gemeinsames Klettern ist die Synergie von körperlichem Erleben, emotionaler Erfahrung, rationaler Einsicht und sozialer Bedeutsamkeit.

 

„Ich fühle, also bin ich!“ (Petzold 2003, 607 (Petzold 1970c))

 

Literaturangaben:

Fischer Torsten, Ziegenspeck Jörg (2000): Handbuch Erlebnispädagogik. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart. Bad Heilbronn: Klinkhardt.

Frankl Viktor E. (2008, 6. Auflage): Bergerlebnis und Sinnerfahrung. Innsbruck-Wien: Tyrolia-Verlag.

Gilsdorf  Rüdiger (2004): Von der Erlebnispädagogik zur Erlebnistherapie. Perspektiven erfahrungsorientierten Lernens auf der Grundlage systemischer und prozessdirektiver Ansätze. Bergisch Gladbach: EHP.

Greitbauer Karl (1956): Die Gestalt des Bergsteigens. Das Alpine Geschehen im Lichte der Psychologie. Wien: Wilhelm Braumüller Universitäts-Verlagsbuchhandlung.

Schulze Gerhard (1993): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt: Campus.

Waibel Martin J., Jakob-Krieger Cornelia (2009): Integrative Bewegungstherapie. Störungsspezifische und ressourcenorientierte Praxis. Stuttgart: Schattauer.

Zajetz Alexis (2008): Skriptum Psychotherapie- und Erlebnispädagogik-Teil der Ausbildung Klettern als Therapie. Skriptum unveröffentlicht.

 

Die vollständige Literaturliste kann bei der Autorin angefragt werden.