Sicherheit und Entdeckergeist – Wie wir Kinder beim Klettern optimal begleiten können. In diesem Artikel von Susanne Wallner und Anne-Claire Kowald werden die Aspekte beleuchtet, die dazu beitragen ein angstfreies und wohlwollendes Umfeld zu gestalten, in dem ein Kind sich sicher fühlt um seinen naturgegebenen Entdeckerdrang auszuleben. Die Prinzipien sind: Individualität, Selbstbestimmung, dosierte Motivation, Freude…

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Sicherheit und Entdeckergeist – wie wir Kinder beim Klettern optimal begleiten können

Was können Kinder nicht alles Wichtiges durchs Klettern lernen und verbessern: Gleichgewicht, Koordination, „sensorische Integration“ (das optimale Zusammenspiel der verschiedenen Sinne), Kraft und Beweglichkeit, sowie Fokussierung der Aufmerksamkeit, Handlungsplanung und Selbstvertrauen. Im Weiteren sind psychologische Aspekte wie aufeinander aufpassen, Verantwortung übernehmen, dem/der KletterpartnerIn vertrauen und der Umgang mit Angst, Faktoren die beim Klettern eine große Rolle spielen. Beim Outdoor-Klettern kommen noch die verschiedenen Aspekte der Naturverbundenheit dazu, so zum Beispiel die Einstellung, dass Natur etwas Schützenswertes ist.

In diesem Artikel werden wir uns mit den psychologischen Aspekten beim Klettern befassen. Wie könnte das Umfeld aussehen, in dem Kinder die oben genannten Faktoren bestmöglich entfalten können? Nach einleitenden Gedanken stellen wir vier grundlegende Prinzipien vor.

Die „Crux“ bei (kleinen) Kindern ist, dass sie andauernd und auf alles klettern wollen oder versuchen sich an allem Erreichbaren hochzuziehen. Murphys Law für Kinder könnte lauten: „Kann ein Kind wo rauf klettern, wird es rauf klettern“. Das heißt, wir haben den Luxus, Kinder nicht fürs Klettern motivieren zu müssen. Die Kunst besteht umgekehrt darin, den natürlichen Antrieb nicht durch eigenes Tun zu minimieren und das Klettern so zu gestalten, dass sie daran Freude haben.

Bindung und Exploration – Die Welt entdecken wollen…

Die Bindungstheorie (ein Teilgebiet der Psychologie) stellt nun wichtige Gedanken bereit zum psychologischen Verständnis dessen, was sich beim Klettern zwischen Betreuungsperson und Kind abspielt. Ein Zitat unterstreicht dies und stellt heraus, wie besonders das Klettern gerade im Bereich „Bindung“ ist:

„Bindung ist das gefühlstragende Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person anknüpft und das sie über Raum und Zeit verbindet.“ (John Bowlby)

Ein Seil ist das tragende Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person über Raum und Zeit miteinander verbindet. 

Ein Kind traut sich laut Bindungstheorie dann seine Umwelt zu erkunden (sein sogenanntes „Explorationsverhalten“ auszuleben), wenn es sich sicher fühlt, d.h. wenn eine sogenannte „sichere Bindung“ zu seiner wichtigsten Bezugsperson besteht. Kommt ein Kind in eine Situation die in ihm Stress und Angst auslöst, sucht es meist die Nähe zu seiner Vertrauensperson. 

Kinder sind jedoch, wie wir alle wissen, ganz unterschiedliche Persönlichkeiten und das zeigt sich auch in ihrem Kletterverhalten. Einige Kinder klettern mit viel Neugierde und Impulsivität an einer Wand hoch, andere werden sich eher ängstlich oder zögernd der Wand nähern. Wenn ein Kind positive Explorationserfahrungen macht (wenn Dinge gelingen, die es versucht), wird seine Neugier stark fortbestehen und seine Entwicklungsmöglichkeiten werden sich weiter entfalten. Fühlt sich ein Kind hingegen überfordert oder macht es negative Erfahrungen, wird die Neugier automatisch fürs Erste gebremst. Gerade in einer solchen Situation ist sensibles Eingehen der Eltern auf die Bedürfnisse des Kindes besonders entscheidend. Die schwierige Kunst ist es, Kindern individuell bewältigbare Herausforderungen zur verfügung zu stellen, d.h. ihnen interessante Reize zu bieten, ohne sie damit zu überfordern.

Angstbewältigung und Freude am Klettern – Ich trau mich nicht…

Fast jeder Kletterer/jede Kletterin kennt sehr starkes Kribbeln oder irgendeine Art von Angst beim Klettern. Kinder können ihre Emotionen meist noch nicht so genau differenzieren (ob es z.B. mehr die Spannung der Herausforderung ist, oder doch eher Angst und Unsicherheit vor Fehlern oder Verletzungen). Wesentlich für den Umgang mit den Ängsten der Kinder ist zu wissen, dass Auslöser für Angst einerseits reale, äußere Gefahrensituationen und andererseits individuelle Vorstellungen und Phantasien die ein Kind hat (wenn es z.B. die hohe Kletterwand sieht) sein können. Ein erster Ansatzpunkt für Eltern besteht darin, die Angst des Kindes in jedem Fall zu akzeptieren und ernst zu nehmen.

Die Prinzipien…

Welche Aspekte können nun konkret helfen, ein angstfreies und wohlwollendes Umfeld zu gestalten, in dem ein Kind sich sicher fühlt, um seinen naturgegebenen Entdeckerdrang auszuleben? Hierzu wollen wir vier Prinzipien erläutern:

Individualität, Selbstbestimmung, dosierte Motivation und Freude. 

– Das Prinzip „Individualität“ hebt die Wichtigkeit hervor, jedes Kind in seiner Einzigartigkeit wahrzunehmen, mit seinen individuellen Stärken, Schwächen und Interessen. Die persönlichen kleinen Fortschritte sollten im Vordergrund stehen, nicht der Vergleich mit anderen Kindern. Es ist ganz normal, dass sich Kinder nicht stetig weiterentwickeln, sondern manchmal wieder auf eine frühere Entwicklungsstufe zurückkehren, ehe sie zu etwas Neuem übergehen. Dies hat den Zweck, erworbene Fähigkeiten zu festigen und zur Routine werden zu lassen. Umso wichtiger ist der Leitsatz, den direkten Vergleich mit anderen Kindern zu meiden und Individualität in den Vordergrund zu stellen.

– Das Prinzip „Selbstbestimmung“ ist beim Klettern insofern von Bedeutung, weil jede/r Kletterer/in und somit auch jedes kletternde Kind für sich selbst entscheiden darf, wie hoch er/es klettert und wann er/es wieder abgelassen werden möchte. Eine Aufgabe eigenständig zu bewältigen bedeutet einen großen Fortschritt für die Autonomie und Selbstständigkeit eines Kindes. Beim selbstbestimmten Klettern übernimmt es Verantwortung, trifft eigene Entscheidungen und erfährt somit ein bedeutendes Maß an Unabhängigkeit. Dies macht zu Recht stolz.

– Das Prinzip „dosierte Motivation“ bedeutet, das Kind beim Klettern nur minimal und sehr durchdacht zu motivieren. Keinesfalls darf riskiert werden, dass das Kind durch Motivieren oder „pushen“ in Angst gerät. Denn nur bewältigbare Herausforderungen machen Freude. Durch Lob für kleine Erfolge (z.B. weil ein guter Kletterzug dabei war, auch wenn das Top in weiter Ferne blieb) kann die Angst vor Fehlern und Versagen genommen und der Selbstwert gesteigert werden.

Steht ein Kind an einer für sich schweren Kletterstelle, können Erwachsene dem Kind bei der Lösungssuche nur in begrenztem Ausmaß helfen. Der Impuls zu helfen und die Ohnmacht keine direkten Hilfestellungen geben zu können, wechseln einander oftmals ab. Für Kinder ist es ein guter Lernprozess, wenn Erwachsene ihnen bei der Suche nach einer Lösung zwar helfen, sie die Ausführung beim Klettern jedoch ganz alleine vollziehen. Wesentlich ist bei diesen Bemühungen, dem Kind so wenig Hilfe wie möglich und so viel wie nötig zu geben, denn die schönste Lösung ist immer noch die, die man mit einiger Anstrengung möglichst selbstständig erreicht hat – sanfte Hilfestellungen sind das Ziel.

„Freude“ als letztes und vielleicht auch als wichtigstes Prinzip: Für uns Erwachsene sind Erfolg und Stolz oft mit Höhe und dem Erreichen des Tops verbunden, doch Kindern macht es oft viel mehr Spaß an einer Stelle zu schaukeln, oder ein paarmal hintereinander bis zu einer Höhe von ein paar Metern zu klettern und wieder abgelassen zu werden.

Die individuellen Interessen jedes Kindes sollten unsere Richtschnur sein, damit unsere Kinder auch weiterhin Spaß daran haben, ihren großen Entdeckergeist beim Klettern auszuleben!

Autorinnen:

Anne-Claire Kowald: Psychotherapie, Kunsttherapie & therapeutisches Klettern

www.psychotherapie-kowald.at   |   www.stkzweinburg.eu

Mag. Susanne Wallner: Klinische Psychologie, Legasthenietraining & therapeutisches Klettern    

www.psychologie-wallner.com

Fotos: Peter Leithner, Maia Heintz